Mehrfachstigmatisierung Sexarbeit

Wir alle kennen die Vorurteile. Sexarbeitsfeindlichtkeit (ein Term von Ruby Rebelde) ist in aller Munde, auch wenn es Menschen oft nicht bewusst ist. „Hurensohn“ bleibt eines der am meist verbreiteten Schimpfwörter, aber kaum etwas Anderes generiert so viele Klicks, Faszination und Aufmerksamkeit wie Pornographie und Erotik – sei es im Internet, in den Medien, in der Kunst, usw.

Während der Covid-19 Pandemie wurden Sexarbeitende als „Superspreader“ diffamiert – eine Weiterführung einer langen historischen Diskriminierung gegen Sexarbeiterinnen. Bei Kontrollen auf den Straßenstrichen während der Lockdowns wurden Taschenkontrollen bei (weiblich und trans gelesenen) Sexarbeiterinnen durchgeführt. Das Mitführen von Kondomen wurde als Indiz der kriminalisierten Sexarbeit gewertet – also nahmen manche Frauen keine Kondome mehr mit auf die Straßenstriche, um sich vor Polizeigewalt und unbezahlbaren Bussgeldern zu schützen.

Zeitgleich werden Sexarbeitende nicht über die PrEP bei den Zwangsberatungen nach Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) aufgeklärt. Mit Verweis auf die Kondompflicht wird Sexarbeitenden implizit und explizit unterstellt, dass wir, sobald wir von der PrEP wüssten, Kondome weglassen würden, um etwas mehr Geld zu verdienen. So nach dem Motto: Wenn wir Bauarbeiter*innen Schutzhelme geben, dann werden sie unvorsichtig bei der Arbeit.

Wir Sexarbeitende werden als passive und hilflose Opfer stilisiert, wenn die Gesellschaft über unsere Köpfe hinweg entscheiden will. Und dann werden wir als Bedrohung und Gefahr für die bürgerliche, nukleare Familie und die öffentliche Gesundheit dargestellt, wenn wir es trotz allem schaffen uns und unsere Familien zu versorgen; wenn unsere Resilienz und Kreativität das System unterwandert, welches uns abhängig und gefolgsam sehen möchte.

Nun sind wir Sexarbeitenden leider nicht automatisch durchgehend bessere Menschen. Auch wir diskriminieren. Auch wir haben Vorurteile. Auch wir sind vulnerabel.

Wenn wir eine HIV Diagnose bekommen, können wir kaum darüber sprechen. Wir wollen nicht Vorurteile der krankheitsbefallenen Hure bestätigen. Zeitgleich müssen wir darum bangen, dass unsere gesamte Existenzgrundlage wegfällt, wenn Kund*innen oder Kolleg*innen davon erfahren, dass jemensch von uns HIV-positiv ist.

Dabei sind wir Menschen in der Sexarbeit viel aufgeklärter, professionalisierter und erfahrener damit uns um unsere sexuelle Gesundheit zu kümmern. Wie viele von euch „Zivilist*innen“ gehen gerne in Clubs oder swipen auf Tinder und Grindr, ohne daran zu denken wann der letzte STI Test gemacht worden ist. Wie viele von euch haben überhaupt die Fähigkeiten und den Mut solche Dinge mit euren Sexualpartnerinnen zu besprechen?

Für uns Sexarbeitende ist es Alltag.

Es ist die Sexarbeitsfeindlichkeit, die uns ins Schweigen zwingt und das Potenzial unseres Wissens über Sexualität, Konsens und sexuelle Gesundheit der Gesellschaft vorenthält.

Es ist das Stigma gegen HIV, das uns bangen lässt. Denn obwohl n=n ein Fakt ist, können wir doch nicht darauf vertrauen, dass wir weiterhin als begehrenswert gesehen werden, wenn jemensch von einer HIV Infektion erfährt.

Lilli arbeitet unter Anderem als Sexarbeiterin.

Sexarbeit ist nur eine von vielen verschiedenen Tätigkeiten und Engagments, die weder Lilli, noch Kolleg*innen in der Sexarbeit als Mensch definiert.