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Von Fachforen und Konferenzen

von Christoph Schaal-Breite

Auf vieles mussten wir in den letzten Monaten verzichten. Vieles ist ausgefallen. Community und Aktivismus waren nicht möglich wie bisher. Trotzdem haben wir versucht Gesicht zu zeigen, uns einzubringen. Und dies natürlich auch auf größerer Ebene. So haben wir in den letzten Wochen gleich an drei Fachtreffen teilgenommen, von denen wir euch heute kurz berichten möchten.

Begonnen hat es am 13. Juli 2021 mit dem Fachforum Gesundheit des Tagesspiegel. In diesem Jahr unter dem Titel „Post-Corona: Paradigmenwechsel in der HIV-Politik?“. Vertreter*innen aus Ärzteschaft, Forschung und Aidshilfen kamen in diesem Jahr zum vierten Mal auf Einladung des Tagesspiegel zusammen.

Interessant war der Vergleich der HIV- und der Sars-CoV-2-Pandemie von Prof. Dr. H. Streeck, den wir hier vereinfacht darstellen wollen.

Prof. Dr. Streeck zog auch in Bezug auf die Impfstoffe einen kleinen Vergleich. Haben es bei Sars-CoV-2 in wenigen Monaten acht von 30 Impfstoffe (die es bis in die letzte Testphase geschafft haben) zur Zulassung gebracht, haben wir bezüglich HIV nach über 35 Jahren keinen einzigen zugelassenen Impfstoff. Und hier haben es nur acht Impfstoffe bis in die letzte Testphase geschafft. Hier sieht Prof. Dr. Streeck, wie auch alle anderen Teilnehmenden nicht nur noch Potential, sondern auch Handlungsbedarf.
Dabei konnte die Frage, ob es um einen Impfstoff zur Heilung von Menschen mit HIV oder einen Impfstoff analog zur PrEP geht nur am Rande aufgeworfen, aber nicht diskutiert werden. Dabei ist die Frage, ob es ein „oder“ geben muss. Wären nicht beide Impfstoffe sinnvoll und erstrebenswert?

Auf die Frage, wieso es bezüglich HIV noch keinen Impfstoff gibt, hatte Prof. Dr. Streeck eine sehr simple Antwort: Weil der politische Wille fehle. Vieles wäre denkbar und möglich, dafür wird dieser politische Wille aber benötigt. Und wir sehen es ja sehr deutlich: War ein Impfstoff gegen Sars-CoV-2 im Interesse der Politik und wurde deswegen mit vorangetrieben, scheint HIV für die Politik kein Thema mehr zu sein und ein Antreiben UND Unterstützen der Wissenschaft und Forschung nicht erstrebenswert.
Hier scheint es also mal wieder an der Community und uns Aktivist*innen zu liegen Wissenschaft und Forschung zu unterstützen (denn Wissenschaftler*innen forschen ja weiter) und die dazugehören Mittel der Politik abzunötigen. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Mittel und Ressourcen, sondern auch um die rechtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen – wozu auch der Kampf gegen Diskriminierung und Stigmatisierung gehört.

Großen Raum nahm die Diskussion über UNAIDS Fast-Track-City-Ziele ein.
Die Ziele für 2020 von 90-90-90 wurden nur in Teilen erreicht. Berlin, als eine der Fast-Track-Citys, liegt aktuell bei 88-97-96, wobei die 88 stagniert. Und wenn dies so bleibt, ist die nächste Stufe für 2030 von 95-95-95 nur schwer zu erreichen. Bezüglich der „0“ wurde kaum gesprochen, es wurde aber deutlich, dass wir hier noch sehr weit vom Ziel entfernt sind.

Aus unserer Sicht ist die Arbeit zum Erreichen der „0“ aber Voraussetzung, um die anderen UNAIDS-Ziele zu erreichen. Solange die Menschen noch immer die veralteten Bilder von Menschen mit HIV im Kopf haben und sie bei einer möglichen Infektion mit HIV bzw. dessen Diagnose Angst vor Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierung haben wird es immer wieder Menschen geben, die sich nicht testen lassen werden. Und dadurch wird es schwierig die ersten 95 zu erreichen.
Deswegen sind wir der Meinung, dass der Kampf gegen Diskrimierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV erstes Ziel sein muss, das erreicht werden muss. Nur so können wir erreichen, dass sich 95% der Menschen mit HIV auch testen lassen. Leider konnten wir dies beim Fachforum nicht anmerken, da dieses nur als Livestream stattgefunden hat.

Aber auf anderer Ebene konnten wir uns aber beim Fachforum mit einbringen.
Nachdem wir in den letzten Jahren nach den Fachforen immer wieder angemerkt haben, dass bei einer solchen Veranstaltung die Community eingebunden und auf dem Podium vertreten sein muss (und ein Verein aus Hamburg, der mit der HIV-Community wenig bis gar nichts zu tun haben möchte, zählt dabei nicht) hatte die Community diesmal einen Platz im Fachforum. Sie wurde gebeten zu drei Fragen ihre Antworten zu schicken, aus denen dann ein Video zusammengestellt wurde.
Die Fragen und unsere Antworten dazu waren:

Wofür setzen Sie sich derzeit ein?
– Aufrechterhalten und Reaktivierung der Community nach über einem Jahr Pandemie und mehreren Lockdowns
– Vernetzung von regionaler Selbsthilfe auf nationaler Ebene (AktHIV)

Was wünschen Sie sich für Menschen mit HIV von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft?
– Politik: dass das Ziel alle Bevölkerungsschichten bei der Prävention zu erreichen ins Auge gefasst wird
– Wissenschaft: die Verträglichkeit von HIV-Medikamenten und PreP bei nicht-cis-männlichen Menschen und Kindern zu verbessern
– Gesellschaft: das Menschen sich mehr über HIV unterhalten, auch wenn sie selbst nicht HIVpositiv sind und das Unterhaltungen wie bei jeder anderen chronischen Krankheit sind (das „Sensationelle“ der Krankheit soll verschwinden)

Welche Angebote fehlen – was kann bei Prävention, Testung und Behandlung noch verbessert werden?
– Geflüchteten und deren Versorgung
– Prävention, Testung und Behandlung bei Gruppen mit intersektionaler Mehrfachbelastung die wir zurzeit noch am schwierigsten erreichen, um die Ziele 0-90-90-90 zu erreichen

So war das Podium zwar nur wieder mit vermeintlichen Fachmenschen besetzt – ohne die wirklichen Fachmenschen im Leben mit HIV dazu zu holen, aber dies ist ein Anfang. Vielleicht ist im nächsten Jahr ein Menschen mit HIV auch auf dem Podium.

Insgesamt war es ein interessantes Fachforum, an dessen Ende das Fazit stand, dass die Sars-CoV-2-Pandemie die Arbeit im Bereich HIV (professionell und aktivistisch) ziemlich beeinflusst, teils nicht nur hat still stehen, sondern auch Rückschritte hat machen lassen. Nun ist es aber wieder an der Zeit aktiv zu werden und weiter zu kämpfen. Dabei darf niemand vergessen und zurückgelassen werden. Nur so können wir die „0“ erreichen.

Direkt am 14. Juli 2021 waren wir zum „1. Fast Track City Workshop: 0-95-95-95“ eingeladen. Hierzu hatte die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung eingeladen – und zu der wir durch einen lieben, an uns denkenden Menschen hinzu geholt wurden.

Auch hier ging es darum, wie die Ziele der Fast Track Cities – die ja die Ziele von UNAIDS sind – erreicht werden können. Die Beteiligten konnten nämlich feststellen, dass die Testbereitschaft der Menschen zurück ging. Deshalb wurde in verschiedenen Gruppen, die unterschiedliche Schwerpunkte und Zielgruppen hatten, darüber diskutiert, wie die Zahl der Testungen wieder gesteigert werden kann. Dabei ging es auch darum, wie die Testungen nicht nur noch niedrigschwelliger gemacht werden könnten, sondern wie die Tests auch zu den Menschen kommen können. So würde der Schritt hin zur Testung, der viele Menschen vielleicht von der Testung abhält entfallen und so wäre die erste „95“ wieder erreichbar.

In dieser Diskussion merkten wir an, dass wir bei der berechtigten Diskussion, wie wir wieder zu mehr HIV-Tests kommen, nicht die „0“ aus den Augen verlieren dürfen. Denn, so äußerten wir, die Angst bei einem positiven Testergebnis ausgegrenzt, diskriminiert und stigmatisiert zu werden könnte auch ein Grund dafür sein, dass Menschen sich nicht auf HIV testen lassen.
In diesem Workshop wurde darauf nicht weiter eingegangen, sondern mehr über die Testung an sich diskutiert, aber wir bleiben dran! Wir werden diese Sichtweise immer wieder stattfinden.

Denn am 24. und 25. September diesen Jahres findet im Roten Rathaus der „Fast Track City Summit“ statt. Und aus diesem Workshop wurde eine Vorbereitungsgruppe dafür gebildet. Und über diese Gruppe bringen wir uns und unsere Sichtweise, die Diskussion über die Angst vor Diskriminierung und Stigmatisierung mit ein.

Zu guter Letzt konnten wir dann noch vom 18. – 21. Juli am IAS2021 teilnehmen. Dieser fand zwar hauptsächlich digital statt, hatte sein Basecamp in diesem Jahr aber in Berlin. Und durch die Bemühung aus dem Vorstand und die Unterstützung der IAS-Verantwortlichen konnten wir zu zweit (kostenlos) an der gesamten Konferenz teilnehmen.

Auch auf dem IAS2021 war die Sars-CoV-2-Pandemie immer wieder Thema – aus unserer Sicht auf einer HIV-Konferenz vielleicht zu viel. Trotzdem ging es in den mannigfaltigen Veranstaltungen um viele Aspekte des HI-Virus und dem Leben damit. Zwar ist der IAS eine wissenschaftliche Konferenz, es gab aber auch für uns einige interessante Aspekte und Einblicke.
Alle hier wiederzugeben ist nicht möglich. Aber ein paar Stichpunkte, um einen kleinen Eindruck zu bekommen:

  • 40 Jahre nach dem ersten wissenschaftlichen Report über HIV / Aids fehlt in weiten Teilen am politischen Willen im Kampf gegen die Verbreitung von HIV. Wäre der Willen und das Bestreben der Politik mehr, würden Gelder wir in die Sars-CoV-2-Pandemie auch in die HIV-Pandemie gesteckt werden, hätten wir jetzt (durch unter anderem den Schutz durch Therapie / die Nichtübertragbarkeit und die PrEP) die Chance die HIV-Pandemie zu beenden. Diese Chance sollte genutzt werden. Dazu müssen wir lauter werden!
  • Nachdem Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 in kurzer Zeit gefunden wurde ist es an der Zeit, hier auch intensiver bezüglich HIV zu forschen.
  • Die Sars-CoV-2-Pandemie hat Ungleichheiten (insbesondere in der medizinischen Versorgung) noch einmal deutlich vor Augen geführt. Nun muss daraus der Kampf gegen diese Ungleichheit resultieren. Und dies kann bei Pandemien nur durch ein globales Denken geschehen.
  • Im Schatten der Sars-CoV-2-Pandemie sind HIV und Aids „liegen geblieben“ – sozial und im Gesundheitssystem. Erfolge im Bereich HIV haben teilweise einen Schritt zurück gemacht. Dies darf nicht sein. Deswegen ist es an der Zeit sich wieder adäquat und in Gänze im Bereich HIV und Aids zu engagieren und den Kampf weiter zu führen.
  • Lücken im Gesundheitssystem wurden in den letzten 1,5 Jahren deutlich. Die Anfälligkeit und Fragilität wurden aufgezeigt. Hier muss investiert werden. Denn ein funktionierendes Gesundheitssystem ist der Schlüssel für Gesundheit. Und Investitionen in das Gesundheitssystem sind Investitionen in die Gesundheit und dadurch in die Menschen. Gesundheit (und die dazugehörige Behandlung) ist ein Menschenrecht.
  • Die HIV-Pandemie darf nie zu einer vergessenen Pandemie werden. Deswegen müssen den Zahlen und Statistiken Namen und Gesichter gegeben werden.
  • Der Kampf gegen die Verbreitung von HIV muss global gedacht werden. Zwar müssen Prävention und Information den Ländern und Regionen, den Zielgruppen entsprechend angepasst werden. Aber die Basics in diesem Kampf sind die gleichen. Insbesondere die drei Säulen des Safer Sex (Kondom, Schutz durch Therapie und PrEP) müssen weiter verbreitet werden, da es immer noch Länder gibt, in denen unter Safer Sex allein die Benutzung des Kondoms gesehen wird.
  • Die UNAIDS-Ziele 95-95-95 müssen in allen Populationen erreicht werden. Dabei stellen die Ziele je nach Land und Region unterschiedliche Herausforderungen.
  • Die Behandlung von Menschen mit HIV und PrEP-User*innen muss vereinfacht und niedrigschwelliger werden. Dazu braucht es mehr Testungen, mehr Verschreibungen der PrEP und mehr Service in der ART-Behandlung. Idealerweise sollte dies alles unter einem Dach sein.
  • Diskriminierung und Stigmatisierung muss auch im Gesundheitssystem abgebaut werden. Dies fängt bei der Ausbildung der Fachkräfte im Gesundheitssystem an. Dazu gehört auch die Behandlung von Trans-Menschen, die oft noch sehr diskriminierend behandelt werden.
  • Im Kampf gegen die gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung müssen die Politik und die Justiz aktiv werden. Hier bedarf es auch gesetzlicher Anpassungen und Schutz. Und wir brauchen Solidarität.
  • In allen Bereichen von HIV und Aids MUSS die Community einbezogen werden!

Was leider auffiel ist, dass sich auf dem IAS hauptsächlich Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen, vereinzelt Vertreter*innen von Projekten ausgetauscht und miteinander diskutiert haben. Ja, es ist schließlich eine wissenschaftliche Konferenz. Aber wenn über das Leben mit HIV, von Diskriminierung und Stigmatisierung, von der Behandlung der Menschen mit HIV gesprochen wird, dürfen diese Menschen nicht außen vor gelassen werden. Viel zu selten, aus unserer Sicht, kamen Menschen mit HIV (ohne Funktionär*in zu sein) selbst zu Wort.
Nothing about us without us!

Zum Schmunzeln brachte immer wieder die Begrüßung der Teilnehmenden, die oftmals aus „good morning, good afternoon and good night“ bestand. Denn saßen wir in Deutschland tagsüber in den Sessions, war es bei vielen Teilnehmenden entweder sehr früh morgens oder auch tief in der Nacht.
Nichtsdestotrotz war es eine interessante Konferenz. Und sie hat wieder sehr deutlich gezeigt: Es liegt noch viel Arbeit vor uns!