DÖAK 2021 – ein kleiner Rückblick
In diesem Jahr hat der DÖAK (Deutsch-Österreichische-AIDS-Kongress) anders als gedacht stattfinden müssen. Ursprünglich wollten sich die Fachmenschen im Bereich HIV und Aids – Ärzt*innen, Forscher*innen, Aktivist*innen, Menschen mit HIV – in München treffen und sich austauschen. Doch SARS-CoV-2 hat dies nicht zugelassen, so dass sich die Teilnehmenden von Donnerstag bis heute digital getroffen und ausgetauscht haben.
Trotz der herausfordernden Bedingungen des Kongressen waren diese drei Tage aber Tage, in denen sich in großen Teilen alle Fachmenschen auf Augenhöhe und gleichberechtigt begegnen sind. In Bezug auf die Abschaffung von Diskriminierung und Stigmatisierung, den intersektionalen Blick auf alle Menschen im Bereich HIV und Aids, unseren Einbezug in die medizinische Behandlung und Forschung und vieles mehr haben wir natürlich noch einige Arbeit vor uns. Aber, so mein Eindruck, in vielen Ärzt*innen scheinen wir Unterstützer*innen zu haben.
Ein Indiz dafür ist das Interesse der Ärzteschaft an den Workshops, Campfire und Beiträgen der Community auf dem DÖAK. In allen Community-Workshops, an denen ich teilnehmen konnte, waren weit mehr als 80 Teilnehmende. Im Campfire „Trans“, geleitet von Alexander Hahne, wurden viele Fragen auch von Ärzt*innen gestellt. Es scheint also auch von Seiten der Wissenschaft Bedürfnisse an uns zu geben.
Aber trotz allen positiven Beiträgen wurden natürlich auch Defizite wieder deutlich. Wir alle, und damit meine ich nicht nur die Ärzt*innen und Forscher*innen, sondern auch uns als Gesamtheit der HIV-Community, müssen über unseren eigenen Tellerrand blicken. Wir müssen auch die Menschen, deren Community nicht so groß ist, mitnehmen und dürfen sie nicht vergessen. Und wir müssen mehr Offenheit zeigen – und Solidarität.
Solidarität? Auch darüber ging es in einem der Community-Workshops. Leider nur am Rand, denn irgendwie hätten wir in allen Community-Veranstaltungen mehr Zeit gebrauchen können. Solidarität hat nichts mit „alle gleich machen“ zu tun. Alle müssen das Gleiche machen, gleich handeln. Solidarität, so ist meine Definition nach diesem Workshop, ist, wenn jeder Mensch die eigenen Grenzen und Bedürfnisse wahrnimmt und innerhalb dieser handelt – und die Grenzen und Bedürfnisse des Gegenüber akzeptiert. Nur so können wir gemeinsam leben – und insbesondere durch diese Zeit der SARS-CoV-2-Pandemie kommen.
Ansonsten ist bei mir hängengeblieben, dass ich selbstverständlicher positiv leben möchte. Dass ich selbstverständlich als „er/ihn“ leben will und mehr auf Gender achten möchte, gerade auch in meiner Sprache. Und ich weiter aktiv und aktivistisch tätig sein möchte. Schließlich haben wir, trotz der Errungenschaften der letzten Jahrzehnte, noch einiges an Arbeit vor uns…
Und obwohl der DÖAK statt als Präsenzveranstaltung online stattfinden musste bin ich erstaunt, wie gut der Austausch gelungen ist. Und es war sehr schön einige Gesichter und Stimmen nach so langer Zeit mal wieder zu sehen und zu hören! 🙂
Ein sehr guter Beitrag und als Beispiel für das, was noch an Arbeit vor uns liegt, war die Rede von Nicole Kamga in der Plenarveranstaltung am Samstag – die hier abschließend nun zu lesen ist:
„Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, dass Sie mir heute morgen Ihre Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Ich möchte Ihnen Einblicke geben in das Problem der Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen der Migranten-Community, insbesondere der HIV-Positiven People of Color, denn ich bin Teil dieser Community.
Ich möchte mit Ihnen dieses Thema näher betrachten und über Lösungen nachdenken. Dabei werde ich von einem Projekt berichten, an dem ich teilgenommen habe: positive stimmen. Das Ziel dieses Projekts ist es, die unterschiedlichen Formen von Stigmatisierung und Diskriminierung zu erfassen, die Menschen mit HIV erleben. Dafür haben wir im vergangenen Jahr in ganz Deutschland Daten erhoben.
Positive Stimmen ist ein partizipatives Projekt. Es wird hauptsächlich von Menschen mit HIV getragen und umgesetzt. Durch die Beteiligung von Menschen mit HIV lässt sich besser herausfinden, in welchen Bereichen die Integration von Menschen mit HIV nicht gelingt und was die Gesellschaft falsch macht.
Diese Erfassung wird hoffentlich einige Verbesserungen des Systems ermöglichen. Vielleicht wird das Bild dekonstruiert, wonach HIV Angst oder sogar Ekel hervorruft. Denn solche Bilder zerstören uns!
Es kostete mir viel Mut, an diesem Projekt teilzunehmen. Auch ich selbst bin erst seit 2017 HIV-positiv. Aber ich habe es geschafft. Ich wurde als Interviewerin geschult und habe 30 Personen interviewt, darunter viele Migranten. Den Mut, den ich brauchte um bei den Positiven Stimmen mitzuwirken brauche ich auch heute, um vor Ihnen zu sprechen.
Aber durch die Interviews habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sehr vielen Menschen nicht so geht wie mir. Sie reden nicht über HIV. Viele tun sich sehr schwer damit, mit ihrer Familie über ihre HIV-Infektion zu sprechen, und noch mehr mit Freunden selbst innerhalb der Migranten-Community. Der Grund, warum sie sich bei mir geöffnet haben, ist, dass ich selber positiv bin, und zwar im doppelten Sinne!
Ich möchte mit Ihnen über Migranten in Deutschland sprechen. In meinen Interviews ist mir aufgefallen, dass es für sie noch viel schwieriger ist, über HIV zu reden. Sie ziehen sich oft zurück und tun alles was sie können, um ihr Status vor Anderen so lange wie möglich geheim zu halten. Sie wollen mit niemanden darüber sprechen, erst recht nicht in der Öffentlichkeit. An erster Stelle haben sie Angst vor der Reaktion der Familie. An zweiter Stelle fürchten sie die Reaktion der Mitglieder der eigenen Community. Sie haben Schuldgefühle, Angst vor Ausgrenzung und manchmal sogar Ekel.
Ich habe das Glück eine Familie zu haben, die für mich da ist – sei es in Deutschland oder in meinem Heimatland Kamerun. Das ist aber nicht für alle der Fall. Viele HIV-positive Migranten sind einsam.Sie sprechen oft kein Deutsch. Sie haben es schwer sich auszudrücken und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Für sie ist es noch schwerer, die neueLebensbedingung „HIV“ zu bewältigen.
Eine Frau, die ich interviewt habe, hat mir erzählt, dass sie bei der Geburt ihrer Tochter vom medizinischen Personal wegen ihrem HIV-Status in Quarantäne gestellt wurde. Sie wurde komplett isoliert. Die Ärzte oder Schwestern, die sie in ihr Zimmer besuchten, hatten einen Ganzkörper-Schutzanzug an. Stellen Sie sich vor, wie eine solche Erfahrung sich für Menschen anfühlt, die die Sprache des Landes nicht sprechen aber denken, sie wären in einem modernen und entwickelten Land!
Einerseits wird uns durch die erfolgreiche Therapie ein „normales“ Leben ermöglicht…Aber andererseits passieren solche Dinge, die alles andere als „normal“ sind. Solche Geschichten machen z.B. Menschen wie mir Angst, Kinder zu bekommen. Wann wird es enden?
Trotz den wissenschaftlichen Fortschritten, der Lebenserfahrung und der inzwischen guten Gesundheit von Menschen mit HIV haben die deutsche Bevölkerung und das deutsche Gesundheitspersonal Vorurteile.
Der Bereich Gesundheit und ist für alle Menschen wichtig, aber für chronisch Kranke ganz besonders. Doch das Gesundheitswesen ist der Bereich, wo die meisten Diskriminierungen von Menschen mit HIV berichtet werden. Das führt bei vielen Personen dazu, dass sie ihr HIV-Status im Gesundheitswesen nicht mehr preisgeben. Genau das haben wir bei Positive Stimmen abgefragt.
Das Ergebnis : jede vierte Person hat geantwortet, dass sie ihr HIV-Status grundsätzlich nicht offenlegt.
Kann das die Lösung sein? Sicher nicht! Aber es ist eine verständliche Reaktion, wenn Menschen immer wieder schlechte Erfahrungen machen und handfeste Diskriminierung im Gesundheitswesen erleben.
Diese Erfahrungen führen zu schweigen aber nicht nur im Gesundheitswesen.
Viele Menschen mit HIV – auch weiße und Deutsche – trauen sich nicht, über ihre HIV-Infektion zu sprechen. Unter den Befragten der Peer-To-Peer Befragung Positive Stimmen sagen 70% „Es ist schwierig, anderen von meiner HIV-Infektion zu erzählen“ und 63% verstecken ihr Status grundsätzlich vor anderen.
Wie kann man all das erklären? Was können wir tun, um es zu ändern? Durch welche politischen Maßnahmen kann mehr Akzeptanz erreicht werden? Das sind die Fragen, die ich mir stelle und die ich Ihnen stelle…
Ein Lösungsansatz ist vielleicht die Geduld. Bei vielen Menschen mit HIV, gerade bei Migranten, ist der Arzt oder die Ärztin die einzige Person, mit der sie über HIV sprechen können. Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass die Ärzte ihren Patienten Zeit geben. Menschen müssen spüren, dass hier ein Ort ist, wo sie ohne Druck ihre Fragen und Zweifel über die Infektion loswerden können.
Außerdem wünsche ich mir mehr Räume für Menschen mit HIV, insbesondere Migranten. Damit meine ich Räume für Austausch und Vernetzung. Denn wie wir wissen: nur wenn wir uns frei fühlen, darüber zu sprechen, können wir diese Erfahrung zu bewältigen! Und zwar Räume nach unserer Art. Damit meine ich nicht nur das Essen und die Stimmung, die bei uns eine Voraussetzung für ein gelungenes Treffen sind.
Die Migranten sollen dabei im Mittelpunkt stehen. Macht nicht Dinge für uns, sondern lasst uns in eure Strukturen rein, damit wir Dinge für uns tun. Genauso wie bei den positive stimmen Positive Positive befragen. Wir müssen in die Strukturen mit reingenommen werden. Es reicht nicht zu sagen „Wir haben für euch was geplant“, wir wollen Teil des Aidshilfe-Systems sein!
Ich bin eine schwarze Frau und habe meine Diagnose im Jahre 2017 bekommen, als ich schon seit 3 Jahren in Deutschland lebte. Die Anfänge waren sehr schwer, weil ich mich schämte und Angst vor der Reaktion der Leute hatte.
Aber dank der Treffen, an denen ich teilgenommen habe, (insbesondere bei Pro-Plus-Hessen)habe ich die Kraft und den Mut gefunden, mit meiner Familie und meinen Freunden über meine HIV-Infektion zu sprechen. Dieses „Coming Out“ war bei mir keine schlechte Erfahrung, im Unterschied zu manchen Anderen, die nach ihrem Outing ausgegrenzt werden. Ich bin zwar noch nicht so weit, dass ich in meiner Community lautstark verkünde, dass ich mit HIV lebe. Aber ich sage es jeder Person, die bereit ist, mir zuzuhören, ob sie aus meiner Community kommt oder nicht.
Heute kann ich sagen, ich lebe gut mit meinem Status. Ich möchte die Anderen ermutigen, wie ich zu leben – selbstbewusst und mutig.
Aber ich möchte vor allem von der Gesellschaft 3 Dinge fordern:
– Mehr Austausch- und Community-Räume für Menschen aus unterschiedlichen Gruppen
– Mehr Geduld und Zuhören seitens des Medizinpersonals
– Mehr Bildung und Aufklärung, insbesondere zu HIV und die Nicht-Übertragbarkeit, in der Allgemeinbevölkerung aber auch, noch wichtiger, im Gesundheitswesen.„
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen…