Blickpunkt

Täter – Opfer – Ausgleich statt Strafverfahren – Wie der Kriminalisierung der HIV – Infektion begegnen?

Glücklicherweise, und das sei gleich vorweggeschickt, kommt es in Deutschland nicht oft zu Strafverfahren wegen einer HIV – Exposition oder gar HIV – Übertragung. Aber es gibt diese Strafverfahren und ich war leider auch schon einmal unfreiwillig als Beschuldigter involviert.

Was in meinem ehemaligen Dating – Partner beim Erstellen der Anzeige vorgegangen ist habe ich mich während des Verfahrens oft gefragt und mir doch nie wirklich erklären können. Geredet haben wir darüber aufgrund der Situation eines laufenden Strafverfahrens allerdings natürlich auch nie.

Genau an diesem Punkt setzte das von Karl Lemmen und Tim Vogler in der Akademie Schönbrunn am 26. Oktober 2018 gemeinsam gegebene Seminar an. Das arbeitsreiche und intensive Wochenende begann am Freitag nach einem Kennenlernen der anderen acht Teilnehmer mit einem ersten ziemlich realistischen Fallbeispiel:

Claudia, eine online – datende Mittvierzigerin, hat eine Kondomallergie und achtet deshalb bei der Auswahl ihrer Sexualpartner stets darauf, dass diese negativ sind und schickt diese vor dem ersten Sex zum Test. So auch Joseph. Aber nachdem kurz nach dem Verkehr bei Claudia erste Symptome auftreten wird beim Arzt ein HIV – Test durchgeführt. Dieser ist positiv und daher wendet Claudia sich in dem Fallbeispiel via E-Mail an die Aidshilfe, da Claudia gegen Joseph Strafanzeige stellen und ein Schmerzensgeld haben möchte.

Aus Sicht von uns Aktivisten ist der Fall auf den ersten Blick natürlich ziemlich klar! Schließlich läuft Präventionsarbeit seit jeher auf der Basis des Selbstschutzes. Daher haben wir unter Anleitung der Dozenten uns in einem ersten Schritt sowohl Claudias Gefühle angeschaut, als auch die des Beraters beim Lesen der Mail. Hierbei waren wir uns sehr einig, dass Claudia sich als Opfer sieht und Joseph als Täter. Wohingegen wir instinktiv Partei für Joseph ergriffen und – ob nun bewusst oder unbewusst – überlegten, wie man Joseph (vor der drohenden Strafverfolgung) schützen könnte.

Im nächsten Schritt stellte Karl Lemmen uns das sogenannte Drama – Dreieck vor, bei dem Claudia als Opfer eine Ecke, Joseph eine andere als Täter besetzt und wir als Aidshilfe in diesem Dreieck an der dritten Ecke als Retter (manchmal in der Literatur auch Richter genannt) stehen.

Im nächsten Schritt stellte Tim Vogler als ausgebildeter Mediator die Mediation als eine Form der Konfliktlösung bei Kommunikationsabriss vor. Natürlich konnte dies in der durch das Seminar gegebenen Kürze der Zeit nur die Grundprinzipien der Mediation und einen musterhaften Ablauf einer Mediation beinhalten.

Um das Fallbeispiel wieder aufzugreifen spielten wir im Rollenspiel eine Mediation durch, wobei ich selbst das ‘Opfer’ Claudia spielte. Diese Rolle war für mich natürlich besonders spannend, da ich ja in meinem eigenen Strafverfahren bereits zuvor selbst Beschuldigter war.

Bei der Vorstellung des Modells hatte Karl Lemmen bereits erklärt, dass es bei Konflikten innerhalb dieses Dreiecks zu Verschiebungen in Form eines Rollentauschs kommen könnte und genau dies geschah auch so im Rollenspiel: plötzlich saß ‘Joseph’ in einer sich verteidigenden Position der ‚Aidshilfe’ gegenüber, während ich als vermeintliches Opfer einfach nur das Treiben genießen und die neue Machtposition genießen brauchte. Es hatte also tatsächlich ein Täter / Opfer -Wechsel stattgefunden.

Dies war natürlich in der Nachbesprechung auch maßgeblich Thema, denn, wenn wir als Aktivist*innen eine Kriminalisierung der HIV – Infektion und daraus resultierende Strafverfahren vermeiden möchten, sollte so etwas in der Realität natürlich auf keinen Fall passieren! Aber wahrscheinlich sind tatsächlich Rollenspiele hier das Modell der Wahl, um Ideen auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen. Am Ende waren wir uns als Gruppe daher einig, dass eine Mediation auf jeden Fall der guten Vorbereitung bedarf und dass das ‚Opfer’ seine eigene Infektion ein gehöriges Stück verarbeitet haben muss. Hierbei könnte meiner Meinung nach das Buddyprojekt mit einer Begleitung durch einen anderen Positiven auf Augenhöhe eine extrem wichtige Rolle einnehmen.

Noch deutlicher wurde die Notwendigkeit der Verarbeitung der eigenen Infektion am letzten Seminartag. Hier betrachteten wir den britischen Fall von Darryl Rowe. Dieser hatte nach seinem positiven Testergebnis sowohl Gesprächsangebote als auch antiretrovirale Therapie abgelehnt und stattdessen mehrere seiner Grindr – Dates bewusst mit HIV infiziert. Nun kann man berechtigterweise sicher völlig fassungslos über diese Taten sein und er ist eindeutig der Täter – Rolle zuzuschreiben und aufgrund seines Vorsatzes auch strafrechtlich zu verfolgen. Andererseits, wenn wir uns das Drama – Dreieck nochmal vor Augen führen, müssen wir natürlich auch feststellen, dass Darryl Rowe sich ja irgendwann auch selbst infiziert haben und somit in der Rolle des Opfers gewesen sein muss.

Wenn nun eine mangelhafte Verarbeitung der eigenen HIV – Infektion sich mit entsprechender Attraktivität und ‚Nachfrage’ bei Grindr paart erschien es den schwulen Seminarteilnehmern zumindest nicht unwahrscheinlich, dass Darryl Rowe einfach seine Infektion verdrängt hat und über seine Dates selbstständig von der Rolle des Opfers in die des Täters wechselte.

Inwiefern der letzte Fall mittels einer Mediation zu klären wäre erscheint schwer vorstellbar. Aber es verdeutlicht sehr stark, dass die klassischen Täter – Opfer – Rollen in Bezug auf die HIV – Infektion wenig bis überhaupt nicht greifen und es hier anderer Lösungen bedarf.

So waren wir uns im Seminar am Ende einig, dass im ersten Schritt der frisch Infizierte zunächst bei der Verarbeitung der eigenen Infektion unterstützt werden sollte. Sofern nach der begleiteten Verarbeitung dann noch Bedarf besteht wäre eine Mediation unserer Meinung nach die beste Wahl, denn hier können beide in einem kontrollierten und geschützten Rahmen über ihre Gefühle reden. Zumal ich einer möglichen Haftstrafe persönlich sehr kritisch gegenüberstehe. Sicher mag diese in Fällen bei Darryl Rowe grundsätzlich legitim sein. Aber in der Regel geht es bei den in Deutschland verhandelten Fällen nicht um eine bewusst herbeigeführte Infektion.Vielmehr ist in Deutschland die Situation so, dass mit einem Urteil des BGH von 1988 dem HIV Positiven per se unterstellt wird, dass er seine*n Sexualpartner*in infizieren möchte oder es zumindest billigend in Kauf nimmt, wenn keine Kondome verwendet werden. Nun stammt dieses Urteil aus einer Zeit in der HIV unweigerlich zu AIDS und somit zum Tode führte, allerdings, spätestens seit dem EKAF – Statement, ist bekannt, dass weder mit dem Sex (automatisch) die Infektion eintritt noch es zur Ausbildung von AIDS kommt bei rechtzeitiger medizinischer Behandlung.

Dies spiegelt sich auch in den vor Gericht gelandeten Fällen wieder, denn in der Mehrzahl ist hier der Tatvorwurf, dass der Sex ohne Kondom vollzogen wurde und daher die Staatsanwaltschaft mindestens eine versuchte (gefährliche) Körperverletzung anklagt. Kommt es nun zu einer Haftstrafe wird der “Täter” gleich mehrfach bestraft: Einerseits ist der psychische Druck bereits während eines Strafverfahrens, wie ich aus eigener Erfahrung sagen kann, unvorstellbar groß und andererseits das Diskriminierungspotenzial in Haft angefangen bei Schließern, die sich mehrere Handschuhe anziehen und endend bei mangelhafter medizinischer Versorgung so unendlich groß, dass es einfach in keinem Verhältnis mehr dazu steht, dass es ursprünglich ja mal um einvernehmlichen Sex ging.

Dass ich mein Date bei unserem Sexdate nicht anstecken konnte und er sich woanders infiziert haben muss ist mir bewusst. Allerdings war es im Seminar tatsächlich sehr spannend das Ganze einmal aus seiner Perspektive, die wahrscheinlich von Gedanken wie ‚Ich habe doch alles richtig gemach’ geprägt ist, zu sehen. Der Perspektivwechsel hat mir auch heute, drei Jahre nach Einstellung des Verfahrens, geholfen mich in seine Position hineinzuversetzen. Denn die Rolle des Opfers ist einfach derart unattraktiv und mit so vielen negativen Gefühlen verbunden, dass man sie so schnell wie möglich hinter sich lassen möchte und die gefühlte Machtposition eines Anzeigenstellers hingegen schier unendlich.

Der Perspektivwechsel und am Ende eine Einigung – wie auch immer diese bei HIV – Exposition oder – Transmission aussehen mag –  sind Ziel einer jeden Meditation. Heute, wo ich beide Verfahrensweisen kenne, würde ich ganz klar sagen, dass jeder Fall der über eine Mediation statt eines Strafverfahrens aufgelöst werden kann für alle Beteiligten ein immens großer Gewinn ist, denn bei einem offiziellen Strafverfahren redet man in der Regel überhaupt nicht mehr miteinander und dies ist bei verletzten Gefühlen auf beiden Seiten die schlechteste Variante.