Allgemein,  Blickpunkt

Von HIV, Stigmatisierung und Gesundheit – und einer Verschwörung

Kleine Gedanken – zu großen Dingen (von Christoph Schaal-Breite)

„Von HIV, Stigma und Gesundheit – und einer Verschwörung“ – seit einiger Zeit gehen mir immer mal wieder Gedanken durch den Kopf. Gedankenblitze. Kleine Gedanke zu großen Dingen? Das muss jede*r Leser*in für sich selbst entscheiden. Es sind auf jeden Fall meine Gedanken zu mir wichtigen Dingen. Dinge, über die ich gestolpert bin. Und die lasse ich heute einmal raus – ohne Anspruch auf Richtigkeit, Allgemeingültigkeit oder irgendwelche Verpflichtungen. Einfach meine Gedanken…

  HIV – eigentlich sind es nur einfache drei Buchstaben. Doch seit gut 3,5 Jahrzehnten bewegen sie die Welt. Sie beschäftigen Ärzte, Forscher und Wissenschaftler. Politiker, das Gesundheitssystem und Pharmaunternehmen. Und natürlich die Betroffenen, deren Familien und die Gesellschaft. Wobei, die Gesellschaft? Wirklich?

  Vor 3,5 Jahrzehnten beschäftigte HIV massiv die Menschen und damit die Gesellschaft. Ein Aufschrei ging um die Welt: Eine Seuche geht um! Oder um die Vorurteile von damals (damals?) zu bemühen: Eine Schwulen-Seuche geht um! In den Medien war HIV damals sehr präsent. In den Fernsehsendungen wurde darüber diskutiert, in der Politik gestritten, in Zeitungen berichtet und auf Plakaten die Folgen gezeigt. Anfang der 1990er-Jahre haben es die drei Buchstaben bis in den Sexualkundeunterricht in der Schule geschafft – zumindest bei mir damals.

  Wobei, so ganz stimmt das nicht. Nicht die drei Buchstaben, nicht HIV hat es damals soweit gebracht. Es war Aids. Aids hier, Aids dort – alle sprachen fast nur von Aids. Aber dass HIV und Aids nicht das Gleiche oder gar das Selbe sind – ich mag mir kein Urteil darüber erlauben, ob dies damals noch nicht gesehen werden konnte oder in der Hektik der Zeit einfach übersehen wurde. (Umso wichtiger, dass wir heute darauf achten, dass HIV nicht gleich Aids ist und es deswegen immer nur um HIV und Aids gehen kann!)

  Aber wieder zurück zu HIV und Aids in der damaligen Zeit. Überall war das Thema präsent. Und auch wenn die meisten Menschen nicht wussten wie sich der HI-Virus genau auswirkt, eins wussten sie: Aids ist eine ansteckende Krankheit, die sehr schnell zum Tode führt. (Zur damaligen Zeit leider die bittere und traurige Realität.) Das machte Angst. Und Schlagworte wir „ansteckend“ und „tödlich“ in Verbindung mit den präsenten Bildern von Aids-Erkrankten, die dahinsiechend im Krankenhaus liegen, haben sich eingebrannt. Bis heute…

  Und diese Angst von damals trägt dazu bei, dass Menschen mit HIV auch heute noch diskriminiert und stigmatisiert werden. Diese Angst hat sich in den Köpfen, ins gesellschaftliche Gedächtnis festgefressen. Sie bestimmt noch heute die Sicht und den den Blick auf Menschen mit HIV – die Bilder vom Leben mit HIV. Wie wir gesehen werden? Oft immer noch als Virenschleudern, verantwortungslos, gefährlich (alles Worte, die mir persönlich schon begegnet sind) – Menschen haben immer noch Angst vor uns. Sie bekommen die Bilder der abgemagerten, sterbenden, leidenden und dem Tod geweihten Aids-Erkrankten der 1980er-Jahre nicht aus dem Kopf. Es herrschen immer noch die Vorurteile, dass Menschen mit HIV selbst dran schuld, höchst ansteckend und nicht leistungsfähig sind. Die aktuellen Bilder von Menschen und dem Leben mit HIV, die Erkenntnis von n=n haben es schwer in die Köpfe der Gesellschaft zu gelangen – denn wo beschäftigt sich die Gesellschaft noch mit dem Thema? Die Medien interessiert nur noch Auflage und beschäftigen sich mit HIV und Aids, wenn sie selbige durch eine reißerische Berichterstattung steigern können. Das Thema ist in Fachkonferenzen und Fachtage, in die Zuständigkeit der betreffenden Fachkräfte (inklusive der Aids- / Selbsthilfen und der Betroffenen) gerutscht. Die breite Öffentlichkeit bekommt so gut wie nichts von allen Änderungen mit – will es anscheinend nicht mitbekommen und lieber die alten / veralteten Bilder behalten. Wieso etwas Neues annehmen, wenn die alten Schubladen so leicht zu bedienen sind?

  Dabei wäre eine breite und öffentliche Auseinandersetzung notwendig. Denn was einem da so manchmal begegnet lässt einen nicht nur den Kopf schütteln, sondern manchmal auch an der Ignoranz verzweifeln.

  Ein kleines Beispiel: Eine große bekannte Plattform für Homosexuelle. Derzeit kann für die Kategorie SAFER SEX „immer“, „nach Absprache“ oder „niemals“ oder erst gar keine Angabe gemacht werden. Das hat mich schon etwas länger gestört, denn der Begriff SAFER SEX ist Auslegungssache und diskussionsbedürftig, wird doch damit immer der Sex mit Kondomen in Verbindung gebracht. Aber ich, homosexuell, HIVpositiv, unter der Nachweisgrenze, auch ich praktiziere durch n=n aus meiner Sicht Safer Sex – auch ohne Kondome. Und so habe ich diese große Plattform angefragt, ob man die Kategorie SAFER SEX nicht um PrEP und Schutz durch Therapie erweitern könnte. (Wie es eine andere weltweit verbreiterte Plattform schon längere Zeit macht…) Die Antwort? Es wäre ja nur „quasi“ identisch und schütze ja nur vor der Ansteckung mit HIV, nicht allgemein vor Geschlechtskrankheiten. Ja, nicht falsch – aber auch nicht richtig. Auch Kondome bieten nur einen eingeschränkten Schutz vor Geschlechtskrankheiten. Oder bedeutet Safer Sex mittlerweile auch beim Küssen, Blasen und Lecken an den entsprechenden Stellen ein Kondom zu verwenden? Und nachdem ich auf diesen nur bedingten Schutz hingewiesen habe, plötzlich erwägt die Plattform zumindest die Aufnahme der PrEP in die Kategorie – ein Schritt, aber mehr als nur halbherzig. Es ist einfacher in alten Bildern, in veralteten Kategorien zu denken. (Und wie erschreckend und gefährlich ist es zu lesen, HIV würde es nicht geben und wäre eine Verschwörung der Pharmaunternehmen…) Einer Auseinandersetzung und Diskussion wird aus dem Weg gegangen. Nur wieso?

  Schubladen sind leichter zu bedienen und vereinfachen – ich muss nicht mehr selbständig (nach)denken, keine Verantwortung (für mich selbst) übernehmen. Auch das wird gerade auf den Chat-Plattformen für Homosexuelle durch eine Frage sehr deutlich: „Bist du gesund?“ Wie sehr mich diese Frage am Verstand meines Gegenübers zweifeln lässt. Davon abgesehen, dass ich persönlich klare Angaben in meinen Profilen habe (+, unter der Nachweisgrenze, n=n), worauf bezieht sich diese Frage? Wozu steht sie in Relation? Möchte mein Gegenüber wissen, ob ich einen Schnupfen habe? Oder eine Erbkrankheit? Natürlich bin ich mir bewusst, worauf sich diese Frage bezieht. Aber auch in Bezug auf HIV ist sie nicht logisch. Denn auch als HIVpositiver kann ich einen Schnupfen oder eine Erbkrankheit haben. Wieso wollen das die Leute wissen? Ich antworte mittlerweile (teils genervt, teils verärgert) standardmäßig: „Ja, ich bin gesund, HIVpositiv, auf Therapie, unter der Nachweisgrenze, ohne STDs.“ Denn auch als Mensch mit HIV fühle ich mich nicht krank, sondern gesund! Die ehrlichere Frage wäre deshalb doch: „Bist du infektiös / ansteckend?“ – aber die Frage traut sich keiner zu stellen. Denn dazu müsste man sich mit dem Thema HIV und Aids und dem aktuellen Stand der Forschung auseinandersetzen. Und das will niemand, ist ein Tabu – auch und gerade in der schwulen Community.

  Außerhalb des medizinischen / pflegerischen / pharmazeutischen “Fachpersonals“, außerhalb der Selbsthilfe und des Aktivismus, außerhalb der „Betroffenheit“ – es fehlt an Informationen, Auseinandersetzung, Beschäftigung und Diskussion. Außerhalb des erwähnten Kreises wissen wenige um die Veränderungen und Neuerungen. “n=n“ scheint ein Codewort, PrEP nur eine belächelte Minderheitenlösung zu sein – über die wahren Möglichkeiten und Chancen dieser beiden Präventionssäulen bleibt die breite Öffentlichkeit im Ungewissen. Wo bleibt die Politik? Das Gesundheitswesen?

  Wie erwähnt, es wird lieber an alten Schubladen, an alten Strategien, an alten Bezeichnungen festgehalten – und so Diskriminierung und Stigmatisierung weiter möglich gemacht, auch von staatlichen / öffentlichen Institutionen. Auch die (unwissenden) Menschen nutzen die Schubladen weiterhin und gerne. So kann und werde ich als Schwuler mit HIV und n=n-Streiter in eine dieser Schublaben gesteckt und mein Gegenüber kann sich besser, aufgewertet fühlen – durch meine Diskriminierung und Stigmatisierung. Und das ist die Krankheit die HIV mit sich bringt. Menschen mit HIV, wir werden auch heute noch, bei allen Erkenntnissen beleidigt, beschimpft, ausgegrenzt. Das ist nicht gesund, das macht krank. Deswegen: Es muss sich endlich etwas ändern!

  Ich habe die Frage gestellt, wo die Politik und das Gesundheitswesen bleiben, denn sie könnten Veränderungen mitbestimmen und beeinflussen. Aber damit sich etwas für uns ändert, damit Veränderungen endlich breit gefächert, gesellschaftlich und dauerhaft eintreten gibt es eine Instanz die noch viel mächtiger ist. Eine Instanz, die ein großes Gewicht hat und den endgültigen Anstoß für besagte Veränderungen geben kann – UNS! Wir Menschen mit HIV, wir Aktivist*innen, wir können etwas verändern. Wir können Politik beeinflussen, auf sie Druck ausüben. Wir können die Gesellschaft informieren, sie aufklären. Wir können veraltete Bilder von HIV und Aids ablösen, indem wir zeigen wie wir heute leben. Und wir können nicht nur, wir müssen! Wir sollten nicht auf die Politik warten, dann könnten wir unter Umständen noch Ewigkeiten warten. Wir können und müssen – jetzt! „Nothing about us without us“ bedeutet auch eins: mit, von und durch uns – mit Betroffenen, Aktivist*innen, Selbsthilfen, Aidshilfen, unsern NGOs und unseren Unterstützer*innen! Wir müssen uns unserer Möglichkeiten endlich bewusst werden und uns zusammenschließen!

P.S.:

  Um abschließend noch kurz etwas zum Thema SAFER SEX zu sagen: Ich bin mir bewusst, dass die drei Säulen der Prävention (Kondome, PrEP, Schutz durch Therapie) primär auf den Schutz vor HIV ausgelegt sind. Das Kondom kann zu einem gewissen Anteil auch vor Geschlechtskrankheiten schützen – aber auch nicht zu 100%. Deswegen sollten wir, und damit meine ich alle Menschen, uns regelmäßig auf STDs testen lassen. Denn das ist, meiner Meinung nach, die beste Prävention gegen diese. Doch dazu müsste sich eins ändern: Die Tests müssen reguläre und regelmäßige Kassenleistungen werden.

  Was also können wir tun, um das zu erreichen?

28. + 30.09.2018