Was sind das für Zeiten, in denen wir gerade leben… –
Gerade wurde der Deutsch-Österreichische-Aids-Kongress 2021 eröffnet. Dieser findet in diesem Jahr vom 25.-27.03.2021 digital statt. Auf dem medizinischen Kongress treffen sich Vertreter*innen aus Ärzteschaft, Forschung und Community, um sich gemeinsam über HIV und Aids auszutauschen.
In der Eröffnungssession hat unser Vorstandsmitglied Christoph Schaal-Breite ein Grusswort seitens des CommunityBoards (CB) gehalten. Mit dem CommunityBoard sind Menschen mit HIV / Aktivist*innen aus möglichst vielen Bereichen der Community im Kongress verankert und planen diesen mit. Dabei versucht das CB möglichst viele Themen der Community im Programm zu platzieren.
Hier könnt ihr das Grusswort nun noch einmal lesen:
Grusswort des CommunityBoards zum DÖAK 2021
Was sind das für Zeiten, in denen wir gerade leben…
Dezember 2019 – ich nehme erste Nachrichten von einem Virus in China wahr. Es war für mich eine Nachricht unter vielen. Etwas, das weit weg geschieht – mich nicht tangiert. Doch dann: Mitte März 2020 – Lockdown. Der Virus SARS-CoV-2 ist in Deutschland und verbreitet sich rasant. Alles wird dicht gemacht und runtergefahren. Geschäfte müssen schließen, nur lebensnotwendige bleiben mit Auflagen geöffnet. Kindergärten, Schulen, Theater, Kinos, Restaurants, Fitnessstudios und vieles vieles mehr – zu. Das öffentliche Leben, der HIV-Aktivismus kommen so gut wie zum Erliegen.
Die Straßen sind fast wie ausgestorben. Ich erinnere mich, dass (als kurze Aufenthalte draußen erlaubt wurden) ich mit meinem Mann mit den Rädern durch Berlin gefahren bin. Es war Samstag, schönstes Frühlingswetter. Wir waren am Brandenburger Tor – und wir waren die einzigen Menschen dort. Was für ein Gefühl – herrlich und beängstigend. Das Brandenburger Tor – so leer.
Ergo: seit zwölf Monaten ist die Welt nicht mehr wie bisher.
Machen wir einen Zeitsprung:
1988 – die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ruft zum ersten Mal den Welt-Aids-Tag (WAT) aus. Seit einigen Jahren muss sich die Wissenschaft und Gesellschaft mit einem Virus beschäftigen, der Menschen innerhalb kürzester Zeit krank macht, sterben lässt. Übertragungswege, Auswirkungen, Langzeitwirkungen – (zu diesem Zeitpunkt so gut wie) unbekannt. Dieser Virus macht Angst, schränkt ein, wirft das bisherige Leben über den Haufen und teils aus der Bahn. Zerstört Lebensentwürfe.
Im vergangenen Jahr mussten die Aktionen zum WAT ausfallen. Straßenaktionen, Infostände, Demonstrationen waren nicht möglich. Jeder WAT hat sein Motto. Wie hätte das Motto 2020 sein können – „Wir halten weiter / erneut durch!“? So oder so, ob präsent oder digital, der WAT soll daran erinnern, dass die HIV-Pandemie weiterhin besteht.
2020 – die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ruft eine Pandemie aus. Seit einigen Monaten müssen sich die Wissenschaft und Gesellschaft mit einem Virus beschäftigen, der Menschen innerhalb kürzester Zeit krank macht, sterben lässt. Übertragungswege, Auswirkungen, Langzeitwirkungen – (zu Beginn) unbekannt. Dieser Virus macht Angst, schränkt ein, wirft das bisherige Leben über den Haufen und teils aus der Bahn. Muss die WHO in einigen Jahren auch einen Welt-SARS-CoV-2-Tag ausrufen?
Wie in den 1980er-Jahren ist die Gesellschaft wieder mit einer Pandemie konfrontiert. Aber das, was in Bezug auf HIV und Aids in den letzten Jahren / Jahrzehnten bewältigt wurde, was aus dem Umgang mit dem Virus und dem Leben damit erkämpft und erarbeitet wurde – können wir es auch auf diese Pandemie übertragen? Oder sind wir wieder kurz davor unsere Gesellschaft zu spalten / spalten zu lassen, Menschen mit einem Virus auszugrenzen, zu diskriminieren und stigmatisieren? Haben wir denn so gar nichts gelernt?
Seit rund einem Jahr setzen wir uns mit Infektionszahlen, R-Werten und Inzidenzen auseinander. Vieles erinnert an die Anfänge der HIV- und Aids-Pandemie. Doch im Gegensatz dazu haben wir innerhalb kürzester Zeit, viel kürzer als gedacht und erwartet, Impfstoffe. Schnelltests lassen nicht durch jahrelange Zulassungsverfahren auf sich warten. Wo die gesamte Menschheit und nicht nur augenscheinlich eine „Minderheit“ von einem Virus betroffen ist, da scheinen andere Wege und Mittel möglich, Geld keine Rolle mehr zu spielen.
Aber was können wir aus den Erfahrungen mit der HIV- und Aids-Pandemie in die derzeit alles bestimmende Pandemie übertragen?
Eins sehe ich hier an erster Stelle: Wir müssen vorsichtig sein, dass erkrankte Menschen mit dem SARS-CoVirus-2 nicht diskriminiert und stigmatisiert, nicht ausgegrenzt werden. Die Gesellschaft nicht in „gesund“ und „krank“ gespalten wird. Dies haben wir schon bei Menschen mit HIV erleben müssen – und die Folgen dessen, was Schuldzuweisungen, Angst und Panikmache, was Ausgrenzung und an den Pranger stellen erzeugen, spüren wir in Bezug auf HIV noch heute. Nicht umsonst sind genau diese veralteten Bilder aus den 1980er-Jahren noch immer so präsent und allgegenwärtig, sorgen noch immer für Diskriminierung und Stigmatisierung – entgegen aller aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Was sind das für Zeiten, in denen wir gerade leben…
Nachdem sich die Infektionszahlen in Bezug auf SARS-CoV-2 verringert hatten wurden die Auflagen mehr und mehr gelockert. Mehr und mehr schien sich alles wieder zu „normalisieren“ und wir gewöhnten uns langsam an den Abstand, das regelmäßige Händewaschen, desinfizieren und die Masken. Doch dann schnellten die Zahlen hoch. Höher, als wir sie zu Beginn der Pandemie hatten. Und seitdem? Ein Auf und Ab, Öffnen und Schließen. Mittlerweile befinden wir uns in der 3. Welle. SARS-CoV-2 bestimmt die Nachrichten und Talkshows. Sondersendung über Sondersendung. Wo bleiben da HIV und Aids? Und wo bleibt der Impfstoff gegen HIV?
Im März 2020 ist vieles, was unsere Community empowert weggefallen und der HIV-Aktivismus ist ins Stocken geraten. Anfänglich fast erlahmt. Doch dann haben wir angefangen umzudenken. Neu zu denken. Nach neuen (digitalen) Wegen gesucht. Wir haben uns anders als bisher wieder empowert. Und hat uns die neue Pandemie erst die Stimme verschlagen, haben wir sie mehr und mehr wiedergefunden und erhoben wenn es nötig war – und ist. Denn nach wie vor ist Aktivismus nötig, unverzichtbar. Noch immer haben Menschen Angst vor HIV, diskriminieren und stigmatisieren Menschen mit HIV. Noch immer trauen sich Menschen mit HIV nicht sich zu outen, weil sie Angst vor den Reaktionen haben. Und noch immer herrschen veraltete Bilder vom Leben mit HIV vor, werden teilweise bewusst benutzt und eingesetzt. Das, was Aktivist*innen in jahrzehntelanger Arbeit angefangen haben aufzubauen, ist noch immer fragil. Muss immer wieder erkämpft und verteidigt werden.
HIV ist zur Randnotiz geworden. Nur noch eine reißerische negative Schlagzeile wert. An der HIV-Community, den Aktivist*innen liegt es, dass die Aufmerksamkeit der Gesellschaft und Politik nicht verloren geht, die Belange von Menschen mit HIV nicht aus den Augen verloren werden. Denn auch, wenn das Leben mit HIV sich in Deutschland in den letzten 40 Jahren sehr verändert hat, Menschen mit HIV zum größten Teil ein Leben wie du und ich leben können, vergessen wir nicht: Noch immer stehen nicht allen Menschen mit HIV Behandlung und Medikamente zur Verfügung – auch in Deutschland. Sie sterben – an der HIV-Pandemie.
Und selbst die großen Durchbrüche im Bereich HIV und Aids – von der breiten Öffentlichkeit werden sie so gut wie nicht wahrgenommen. Können sich nicht, wie die alten Slogans und Bilder, in den Kopf und im Denken festsetzen. Oder wie ist es zu erklären, dass das Wissen um die PrEP und „n=n“ so wenig verbreitet ist? Im Gegensatz zu COVID-19 gibt es für Menschen mit HIV seit 25 Jahren eine (meist) gut funktionierende Therapie. Keine Heilung, aber doch eine kaum eingeschränkte Lebenserwartung. Warum ist das bis heute nicht in der Gesellschaft angekommen? Und droht den Menschen mit Long-COVID ebenfalls das Vergessen, wenn die akute Pandemie nicht mehr die Nachrichten beherrscht?
Aktuell beherrscht SARS-CoV-2 die Nachrichten und die Aufmerksamkeit der Wissenschaft. Unsere Themen werden nun noch mehr zur Randnotiz, werden zurückgedrängt. Wie sich die Pandemie zum Beispiel auf den Bereich Chemsex, auf die Situation und das Leben von Sexarbeiter*innen auswirken – wer außer der Community und den Aidshilfen interessiert sich dafür?
Was sind das für Zeiten, in denen wir gerade leben…
Wir als CommunityBoard bringen uns ehrenamtlich ein und vertreten auf dem Deutsch-Österreichischen-AIDS-Kongress die HIV-Community. Wir haben versucht möglichst viele Perspektiven von Menschen mit HIV bei der Planung des Kongresses einzubringen, ihre Themen im Programm zu platzieren. Denn sind Sie die Fachmenschen auf den Gebieten der Medizin und Forschung, so sind wir die Fachmenschen beim Leben mit HIV! Und unsere Perspektive, unsere Expertise darf weder in der medizinischen Behandlung und Versorgung, noch in der Forschung fehlen. Erst wir sorgen für eine ganzheitliche Sicht – getreu dem „greater involvement of people living with HIV and Aids“, dem GIPA-Prinzip. Seit dem 01. Dezember 1994 und der „Paris-Deklaration“ geht daran kein Schritt mehr vorbei. „Nothing about us without us“ – dafür setzen wir uns ein, dies fordern wir ein!
Um es bei dieser Gelegenheit einmal deutlich auszusprechen:
- Wir fordern den Einbezug in die Forschung neuer Medikamente, insbesondere der Depotspritze.
- Wir fordern nicht nur das Mitdenken, sondern das Einbeziehen insbesondere von Frauen, Trans- und non-binäre-Menschen in die Forschung.
- Wir fordern die Erforschung eines Impfstoffes gegen den HI-Virus.
- Wir fordern die Abschaffung von Diskriminierung im Gesundheitswesen, die es auch heute noch gibt.
Und das sind nur einige unserer Forderungen, die hier beispielhaft genannt sein sollen.
Ja, vielleicht rennen wir mit diesen Forderungen bei Ihnen offene Türen ein. Wenn dem so ist, dann helfen Sie uns, dass sich hier etwas verändert. Und lassen Sie während der nun beginnenden drei Tage, so gut wie möglich, uns gegenseitig kennenlernen, damit wir gemeinsam etwas verändern können.
Der diesjährige DÖAK hat alle in der Vorbereitung und Planung vor besondere Herausforderungen gestellt. Alle hätten einen Präsenz-Kongress bevorzugt. Denn so ein Kongress besteht nicht nur aus Vorträgen, Workshops und Plakaten. Ein Kongress besteht auch aus der Begegnung, dem Austausch „zwischendurch“. Und insbesondere auf dem DÖAK besteht die Möglichkeit des Zusammentreffens aller Fachmenschen. Aber die Pandemie lässt dies nicht zu. So stehen wir alle nun vor der Herausforderung eines digitalen DÖAKs. Lassen Sie uns daraus das Beste machen und jede virtuelle Begegnung, jeden Austausch nutzen und begegnen wir uns, als Fachmenschen im Bereich HIV, auf Augenhöhe, gleichberechtigt.
Was sind das für Zeiten, in denen wir gerade leben – Zeiten, in denen wir gemeinsam das Leben mit HIV weiter verbessern wollen und müssen!