Gedanken von der Podiumsdiskussion „HIV-Aktivismus heute + morgen und Tod – zwei unvereinbare Gegensätze?“
Unter dem oben genannten Titel hat pro plus berlin e.V.am 21.03.2019 zu einer Podiumsdiskussion ins Café Ulrichs eingeladen. Vier Podiumsteilnehmer*innen aus unterschiedlichen Bereichen des Aktivismus und mit unterschiedlichen Erfahrungen in Bezug auf HIV sollten moderiert diskutieren. Über einen freien Stuhl auf dem Podium sollte auch das Publikum die Möglichkeit an der Teilnahme bekommen. Leider kam das Publikum nicht so zahlreich wie erhofft. Doch da uns Ideen nicht ausgehen und wir mit Holger Wicht einen sehr kompetenten und erfahrenen Moderator hatten machten wir aus der Podiumsdiskussion ein Tischgespräch – das sich sehr interessant gestaltete.
Auf das Thema kamen wir im Vorstand von pro plus berlin e.V.,als wir über den Weltaidstag 2018 und eine mögliche Aktion zu diesem sprachen. Denn es wurden unterschiedliche Positionen und Meinungen deutlich: Auf der einen Seite das Bedürfnis an die Verstorbenen zu gedenken, andererseits der Wunsch, nur nach vorne zu schauen. Diese Diskussionwollten wir auf dem Podium fortsetzen. Da eine Veranstaltung zum Weltaidstag aber zu kurzfristig war hatten wir uns für den 21.3. entschieden.
Was braucht HIV-Aktivismus? Welche Bedürfnisse haben die Aktivist*innen? Was bedarf es, um nach außen zu „wirken“?
Diese Fragen wurden während der zweistündigen Diskussion aus unterschiedlichen Standpunkten angerissen. Es wurden viele persönliche Geschichten erzählt. Es war lebhaft, berührend, motivierend. Ideen wurden auf den Tisch geworfen. Hier sollen einige Stichpunkte die Vielfältigkeit der Diskussion widerspiegeln:
- Der Weltaidstag war und ist ein Tag, an dem der Toten gedacht, aber auch das Leben gefeiert un d Solidarität gezeigt wird.
- Die junge Generation muss nicht der Toten gedenken, aber sollten deren Erfolge / ihr Erkämpftes weiterführen.
- Aktivismus muss ständig hinterfragt werden, denn nur weil etwas „schon immer so“ gemacht wurde, heißt dies nicht, dass es nicht anders geht.
- Aktivismus und Gedenken sind zwei unterschiedliche Dinge – Aktivismus sollte nach vorne denken
- Damals hatte der Aktivismus schwere Themen, heute sind die schweren Themen andere.
- Heutiger Aktivismus muss wieder politischer / gesellschaftspolitischer werden.
- Durch den gegenwärtigen Tod wurde der Kreis der Aktivist*innen damals immer kleiner, trotzdem haben sie nicht aufgegeben.
- Die jüngere Generation kann dankbar sein, den „Aids-Tod“ nicht mehr erleben zu müssen.
- Für das heute Erreichte mussten Menschen leiden.
- Jede nachfolgende Generation will sich von der vorherigen abheben/abnabeln.
- Steht das Totengedenken/Leid im Widerpruch zu den aktuellen Bildern, die vom Leben mit HIVvermittelt werden sollen? Macht dies die Schwierigkeit der Diskussion aus?
- Auch heute gibt es noch viel zu erkämpfen?
- HIV = Tabuthema, Tod = Tabuthema
- Früher brachte die tödliche Bedrohung die Menschen auf die Straße, mit dem heutigen guten Leben und den Alltagsanforderungen (und der oft fehlenden Zeit) geschieht dies oft nur, wenn man persönlich Einschränkungen erlebt
- Ziel für den Aktivismus: nicht mehr über HIV nachdenken müssen. Weil ein selbstverständliches Leben mit HIV die Regel ist.
- Beide Generationen sollten zusammenarbeiten – denn die ältere Generation hat etwas zu erzählen (das Leben der jüngeren Generation ist weniger „dramatisch“)
- Sorgen die heutigen Privilegien für eine Privilegienblindheit, welche die Vergangenheit und den Blick für das Nötige vergessen lässt?
- Ich möchte ein ganz normales Leben führen, deswegen nehme ich Diskriminierung an mir nicht wahr – will sie nicht wahrnehmen.
- Wenn ich öffentlich z.B. mit der BVG unterwegs bin, traue ich mich nicht in normaler Lautstärke über HIV zu reden, obwohl ich mein Gesicht sonst zeige – aber ich habe Angst vor negativen Reaktionen.
- Die neuen Bilder vom Leben mit HIV werden als Schutzbehauptungen / Selbstlüge bezeichnet (Den Punkt verstehe ich nicht genau. Vielleicht noch mal genauer formulieren? Was ist die Wahrheit, die versteckt werden soll?)
- Die alten Bilder vom Leben mit HIV werden durch veraltete Filme wie „Philadelphia“ immer wieder befeuert.
- Die „neuen“ Bilder vom Leben mit HIV dürfen nicht mit dem Gesamtbild verwechselt werden – denn es gibt immer noch (neues) Leid, es wird noch immer gestorben.
- Es bräuchte ein „Philadelphia 2.0“ – doch wäre eine Neuverfilmung wahrscheinlich ein Flopp, da Drama und Schockbilder fehlen würden.
- Wir sollten offensiver und selbstverständlicher mit HIV leben.
- Wenn eine Person mit einer offensiveren und selbstverständlicheren Einstellung anfängt, kann dies zu einem Schneeballeffekt führen.
- Empfinden wir vielleicht noch Scham für unsere Infektion? Ist sie uns peinlich?
- Die heutige Diskriminierung ist größtenteils nicht mehr lebensbedrohlich, deswegen werden wir bequem.
- Das aktive Verstecken der HIV-Infektion ist ein dauerhafter Stressfaktor.
- Wir müssen ein eigenes Selbstverständnis für uns und unser Leben mit HIV entwickeln.
- Auch heute trauen sich Menschen mit HIV noch immer nicht sich zu outen – aus Angst.
- Wir benötigen Kampagnen nach innen = Empowerment
- Wir müssen raus und uns zeigen, die Gesellschaft wird nicht zu uns kommen.
- Wir benötigen Solidarität – besonders untereinander!
Wir haben uns bewusst dafür entschieden die Inhalte des Tischgespräches in dieser Form darzustellen. Alles andere würde der Diskussion nicht gerecht werden, würde die Inhalte möglicherweise verfälschen und werten. Jede*r Leser*in möchte sich ihr*sein eigenes Urteil über die Ausgangsfrage der Podiumsdiskussion bilden.