Allgemein,  Leben mit HIV

Mitten in der Pandemie – noch immer

von Christoph Schaal-Breite

Was haben wir in diesem Sommer gehofft die Sars-CoV-2-Pandemie endlich zu überwinden. Wir dachten, dass mit dem Impfungen nun das Schlimmste überwunden ist. Wir haben uns schon darauf eingestellt, dass die Zahlen und Infektionen zum Winter wieder steigen werden, aber geringer als zum Winter 2019/2020.

Doch gerade schießen die Zahlen durch die Decke. Tag für Tag neue Höchstwerte. Und neben den Infektionen steigt die Belegung der Intensivbetten und die Zahl der Toten.

Mitten in der Pandemie – noch immer.

In den 1980er-Jahren waren die Menschen auch plötzlich mit einer bis dahin unbekannten Pandemie konfrontiert. Ein Virus verbreitete sich, ließ die Menschen schwerst erkranken und brachte sie oft innerhalb kürzester Zeit um. Erst betraf es gehäuft die schwule Community, doch mit der Zeit verbreitete sich das Virus in alle gesellschaftlichen Bereiche. Die Diagnose bedeute für die Menschen oft erst direkt die Rente und, in vielen Fällen, den baldigen Tod. HIV war in der Welt.

In den 1990er-Jahren verbesserte sich dann mit „Vancouver“* die Situation für Menschen mit HIV: Nachdem Menschen mit HIV anfänglich teils als Versuchspersonen für Medikamente dienten (es wurde fieberhaft nach Medikamenten zur Behandlung von HIV gesucht, die in den Versuchs- und Gabephasen oft noch massive Nebenwirkungen hatten) gab es nun die ersten wirksamen Therapien ohne gravierende Nebenwirkungen. Die Diagnose HIV bedeutete nicht mehr sofort den Tod und  Menschen mit HIV konnten beginnen ein normales Leben zu führen.

In den 2000er-Jahren kam dann der große Befreiungsschlag. 2008 veröffentlichte die „Eidgenössische Kommission für Aidsfragen“ (EKAF) in der Schweiz das sogenannte EKAF-Statement. Durch unterschiedliche Studien war dies die erste Veröffentlichung, in der bekanntgegeben wurde, dass bei Menschen mit HIV unter einer wirksamer Therapie der HI-Virus im Blut nicht mehr nachzuweisen ist und dadurch nicht mehr übertragen werden kann. Endlich konnten Menschen mit HIV wieder entspannter und ohne Angst Sex haben. Sie waren keine „Virenschleuder“ mehr. Und nichts mehr, wovor man Angst haben musste. Dem Ende von Diskriminierung und Stigmatisierung wurden mit diesem Statement Tür und Tor geöffnet.

Aber sind wir auch durch diese Tür und das Tor gegangen?

Aktivist*innen haben versucht die Botschaft der EKAF in verschiedenen Formen bekannt zu machen. Am sichtbarsten war der Slogan „u=u“ bzw. „n=n“ (undetectable = untransmittable bzw. nichtnachweisbar = nichtübertragbar). Doch trotz allen Bemühungen scheint die Botschaft dahinter sich in der Gesellschaft nicht verankern zu können. Oder wird sie erst gar nicht wahrgenommen?

Noch immer weiß ein Großteil der Gesellschaft nichts von den Veränderungen bezüglich HIV im letzten Jahrzehnt. Sie haben noch immer das Bild von Menschen in HIV im Kopf, vor denen sie Angst haben, vorsichtig sein müssen. Dadurch werden Menschen mit HIV auch heute – trotz des EKAF-Statements und der sich anschließenden Studien und Erkenntnisse – diskriminiert und stigmatisiert. Menschen haben noch immer Angst sich auf HIV testen zu lassen, weil sie lieber im Ungewissen bleiben, als sich mit einem positiven Testergebnis Diskriminierung und Stigmatisierung, Ausgrenzung und Ablehnung auszusetzen. Und Menschen mit HIV, bei denen das Virus diagnostiziert wurde, trauen sich nicht offen damit umzugehen. Noch immer müssen sie Angst davor haben, dass ihnen Nachteile entstehen, sie negative Erfahrungen machen müssen. Und dies verhindert leider das Erreichen der „0-90-90-90“**-von UNAIDS. Zwar sind wir bei den 90er-Zielen sehr gut aufgestellt aktuell, aber das nächste Ziel ist „0-95-95-95“. Und noch sind wir von der Null sehr weit entfernt. Und solange wir diese Null nicht in Sichtweite haben wird es schwierig werden, dass möglichst alle Menschen mit HIV auch unter der Nachweisgrenze sind. Deswegen heißt es auch bei HIV weiterhin:

Mitten in der Pandemie – noch immer…

Aber wir Aktivist*innen bleiben dran. Wir kämpfen weiter dafür, dass sich die alten Bilder von Menschen und vom Leben mit HIV aus den 1980er-Jahren mehr und mehr aus den Köpfen verabschieden und die Gesellschaft Menschen mit HIV als das wahrnehmen, was sie sind: Nichts besonders. Keine Sensation. Sondern ein Teil der Gesellschaft – mitten im Herzen von Berlin!

HIV – im Herzen Berlins

*) „Vancouver“ steht als Synonym für die Welt-Aids-Konferenz 1996 in Vancouver.

**) Null Diskriminierung, 90% der Menschen mit HIV wissen von ihrer Infektion, davon nehmen 90% eine medikamentöse Therapie, so dass davon 90% unter der Nachweisgrenze sind