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SAVE OUR COMMUNITY – SAVE YOUR PRIDE

von Christoph Schaal-Breite

… unter diesem Motto hat am vergangenen Wochenende nach einem Jahr Abstinenz der CSD Berlin (oder auch: Berlin Pride) stattgefunden. Und dieses Motto ist nach den vergangenen Monaten mehr als nötig.

Seit dem Beginn der Pandemie im März 2020 steht sich unsere Community besonderen Herausforderungen – nein, besonderen Belastungen ausgesetzt. Anlaufstellen, Veranstaltungen, Schutzräume – alles, was für unsere Community so wichtig ist wurden größtenteils geschlossen. Zwar wurde versucht neue Wege zu denken und auch unter Pandemiebedingungen etwas anzubieten, aber das war kein Ersatz für all das, was in den letzten Jahren erkämpft und aufgebaut wurde. Umso wichtiger ist es, dass wir auch in diesen Zeiten auf unsere Community und somit auf jeden einzelnen Menschen zu achten. Niemand darf allein oder zurückgelassen werden. Denn noch immer ist es teilweise schwer für uns offen und frei zu leben. Wir haben noch immer nicht in allen Bereichen die gleichen Rechte wie die binär-normativ-konservative Gesellschaft. Und noch immer wird in Teilen unsere Art zu leben und zu lieben nicht anerkannt. Unsere Community wird noch immer als „Minderheit“, als exotisch, als verrückt, aber auch als ekelig, unnormal, krank angesehen. Da ist nichts zu spüren von der Gleichheit aller Menschen…

Aber was ist eigentlich „unsere Community“?

Ui, eine schwere Frage… Unsere Community ist so vielfältig und alles andere als homogen. Wir sind LGBTIQ*+ – und alles, was dazwischen, darüber, darunter, daneben liegt. Wir sind vielfältig und bunt. Wir sind Menschen, die auf ihre Weise leben und lieben. Das entspricht vielleicht keiner Binarität, nicht der bisher gewohnten Normativität. Aber Leben ist Bewegung. Leben ist Veränderung. Und ist es nicht schöner, statt zwei Farben viel mehr Farben auf der Palette des Lebens zu haben? Ich denke schon. Denn erst so wird das Miteinander in unserer Gesellschaft spannend und interessant. Hinzu kommen dann noch viele andere Communitys, die sich unter „unserer Community“ zusammenfinden – zum Beispiel wir als Verein, der auch zur HIV-Community gehört. „Unsere Community“ vereint das vielfältige und freie Leben, das freie und offene Leben – ohne Angst und Repressalien – und den Kampf gegen Ausgrenzung, Rassismus, Sexismus, Diskriminierung und Stigmatisierung – den Kampf, dass auch uns alle Menschenrechte zugestanden werden.

Wie nötig dieser Kampf noch ist zeigt die mdr-Doku „Coming out“. Hier zeigen junge Menschen, wie sie sich in den letzten Jahren als homosexuell oder transgender geoutet haben. Und teilweise ist es kaum zu ertragen, was ihnen als Reaktion entgegenschlägt. Die Doku zeigt, dass auch im 21. Jahrhundert ein Coming out noch immer nicht einfach ist. Noch immer haben junge Menschen Angst sich zu outen. Sie denken sie seien falsch, nicht normal. Sie bekommen Depressionen, versuchen sich selbst umzubringen. Weil sie einfach meinen, so wie sie seien, dürften sie nicht sein. Und das tat mir beim Schauen der Doku sehr weh.

Ich habe in meinem Leben in diesem Bereich sehr viel Glück gehabt. Egal, ob ich mich als homosexuell oder HIV-positiv geoutet habe – nie habe ich negative Reaktionen erfahren müssen. Als sehr liebevolles Beispiel ist mir meine geliebte Großmutter in Erinnerung, die auf mein Outing als schwuler junger Menschen nur meinte: „Mein Lieber, ich werde zwar alt, aber blöd bin ich noch lange nicht!“ Und sie hat mich weiter geliebt wie bisher. Das änderte sich auch nicht, als ich HIV-positiv getestet wurde. Und auch in meiner Kirche war „mein Lebensstil“ nie ein Problem. Mein Mann und ich wurden sogar kirchlich getraut. Aber diese Doku hat mir gezeigt, dass solche Reaktionen nicht selbstverständlich sind. Auch nicht in der heutigen scheinbar so aufgeklärten Zeit.

Zum Glück zeigt die Doku aber auch positive Beispiele, die Hoffnung machen. Die aber auch zeigen, dass wir weiter für unsere Anerkennung, für unsere Rechte, für ein freies und selbstverständliches Leben kämpfen müssen.

Ein junger Mann in der Doku bringt es so schön auf den Punkt. Er sagt (in meinen verkürzten Worten), dass wir uns nicht outen um unsere Familien, die Kirchen oder die homophoben Menschen zu provozieren – sondern weil wir frei leben und geliebt werden möchten.

Denn eigentlich, so denke ich, sollte ein Outing in einer Welt voll Anerkennung und Gleichberechtigung und Akzeptanz gar nicht mehr nötig sein. Denn es sollte allen egal sein, wie wir uns fühlen, welche geschlechtliche oder sexuelle Identität wir haben, wen wir lieben. Unsere Leben sollten nichts exotisches oder sensationelles mehr sein, keine Schlagzeilen mehr wert. Um es mit Gloria Gaynor zu sagen: „I am, what I am“ – und so wie ich bin sollte ich angenommen, respektiert und als ein Teil der Gesellschaft gesehen werden. Als ein „normaler“ Teil in einer vielfältigen Gesellschaft. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Bis dahin müssen noch einige Kämpfe geschlagen, viele Vorbehalte und veraltete Einstellungen / Ansichtsweisen aus dem Weg geräumt werden.

Deshalb ist es egal, ob zum CSD Berlin / Berlin Pride in diesem Jahr „nur“ die angemeldeten 20.000 Teilnehmenden, oder 35.000 oder 65.000 waren. Jede einzelne Stimme, die sich für Gleichheit und Anerkennung einsetzt ist eine wichtige Stimme.

Wir brauchen doch nur nach Polen und Ungarn schauen, was dort an Gesetzen möglich ist. Schauen wir nach Russland. Menschenverachtende Gesetze auch in Ländern, die sich Demokratien nennen. 52 Jahre nach Stonewall ist es immer noch nötig auf die Straßen zu gehen, sich der Unterdrückung und Diskriminierung entgegen zu stämmen. Und die Menschen tun dies. Auch das haben wir am vergangenen Wochenende in Budapest gesehen. Trotz der Gefahr vor Gewalt und Repressalien sind die Menschen auf die Straße gegangen, haben sich gewehrt und für Akzeptanz und Respekt ihre Stimmen erhoben, Gesicht gezeigt. Denn wir sind bunt, wir sind vielfältig, wir sind manchmal auch schrill, Glitzer und Einhörner. Aber wir sind Menschen, und keine „Pädophilen“ (wie uns das Gesetz in Ungarn bezeichnet) – und als Menschen möchten wir auch geachtet werden!

Aber wir brauchen gar nicht über die Landesgrenzen hinausschauen. Auch in Deutschland gibt es noch viel für was gekämpft und gestritten werden muss. Auch bei uns ist „homosexuell sein“, „trans / nonbinär sein“ nicht selbstverständlich. Auch hier erleben wir noch immer Diskriminierung und Stigmatisierung, psychische und physische Gewalt. Auch in der, wie es der Regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller sagte, Regenbogenstadt Berlin. Und wo stehen wir mit Anerkennung und Gleichstellung, wenn sich selbst auf einem CSD Teile der Community nicht so zeigen dürfen, wie sie sind? Da gibt es noch viel zu tun! Auch unter uns selbst.

„Unsere Community“ – sie ist queer. Und dies bedeutet, dass jede*r so sein kann wie Mensch möchte. Und gerade in den letzten Tagen geht mir dieser Begriff „queer“ immer wieder durch den Kopf. Ich selbst bezeichne mich als homosexuell. Als Cis-Mann. Aber ist das schon alles? Auch ich habe viele andere Anteile noch in mir. Und habe ich mich zu Beginn selbst gar nicht unter QUEER gesehen, tue ich dies immer mehr. Denn es beinhaltet viel mehr noch und, so empfinde ich es, grenzt nichts aus (– im Gegensatz zu den Querdenkenden). Und vielleicht war es schon ein Vorzeichen, wenn ich in meinem Beruf in Berichten an die zuständige Senatsverwaltung (ohne Absicht oder Hintergedanken) statt „quer“ immer „queer“ schrieb.

In diesem Jahr konnte wieder ein Neustart gemacht werden. Statt Partyumzug sollte es wieder eine Demonstration sein. Und ich denke, dies ist gelungen. Und Demonstrieren und gute Laune schließen sich ja auch nicht aus. Nur müssen wir unsere Stimmen erheben – es ist nötig und wieder Zeit! Zeigen wir uns und kämpfen wir – füreinander und miteinander.

Be loud, be proud, be pride!